Gedanken zum Lehrkräftemangel in Sachsen-Anhalt

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Der Lehrkräftemangel in Sachsen-Anhalt wird immer dramatischer. So oder so ähnlich lässt sich die Situation in unserem Bundesland beschreiben, wobei dies noch die harmlose Umschreibung des wirklichen Zustandes ist.

Wie prekär die Situation ist, zeigen die verschiedenen Aktionen, angedachten Maßnahmen und auch Beschlüsse des Landtages in Sachsen-Anhalt.

In diesem Kontext gibt es die Zahlenkombinationen wie „80+10“ bzw. „40+5“ oder „4+1“. Mit der ersten Zahlenkombination hätte eine Ganztagsschule aus Sachsen-Anhalt fast einen großen Preis gewonnen. Leider ist es jedoch so, dass es an Ganztagsschulen durchaus möglich sein kann, durch das „Abknapsen“ von Unterrichtszeit für andere Projekte und Betreuungsangebote Zeit zu generieren. Aber doch nicht an anderen Schulen, die keine Ganztagsschulen sind. Für diese ist es sehr schlecht bis gar nicht möglich. Das „4+1“-Modell wird an einzelnen Sekundar- und Gemeinschaftsschulen erprobt. Unlängst las ich in der Tagespresse, dass einige Firmen nun auch ein 4+1-Modell einführen wollen. Damit soll dem Fachkräftemangel in den jeweiligen Firmen entgegengetreten werden. Was sich für die Wirtschaft durchaus umsetzen ließe, ist für das Bildungssystem eher unmöglich. Schließlich haben die Schülerinnen und Schüler einen Anspruch und ein Recht auf Bildung. Und das bedeutet vordergründig und mit aller Konsequenz Unterricht nach der gültigen Stundentafel. Bisher wird eher schwammig und kaum konkret umschrieben, wie die Lehrenden und Lernenden diesen „+1“-Tag gestalten sollen. Das hilft keinem weiter. Vor allem die Eltern/Erziehungsberechtigten brauchen und fordern zu Recht in diesem Zusammenhang Klarheit.

Nun kam eine neue Möglichkeit zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels als Beschluss aus dem Landtag hinzu. Die Idee ist folgende: Mithilfe von freiwilligen Arbeitszeitkonten, die durch freiwillige Mehrarbeit befüllt werden sollen, wird für weniger Stundenausfall gesorgt. Leider haben die Ideengeber des Antrages vergessen, dass vor allem die tarifbeschäftigten Lehrkräfte in der Vergangenheit damit sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben. Im Rahmen eines Tarifvertrages zur Arbeitsplatzsicherung wurden in den ersten 2000er-Jahren („zwangsweise“) Arbeitszeitkonten eingeführt. Die Älteren unter uns erinnern sich sicher noch daran. Diese Arbeitszeitkonten konnten durch Einmalzahlung (und einen nahezu 50%-„Verlust“), durch monatsweises Auszahlen oder durch Freizeit abgegolten werden. Letzteres erwies sich im Bereich der Sekundarschulen als sehr schwierig. Unter dem Aspekt, dass der Großteil der Lehrkräfte inzwischen auch mindestens jenseits der Altersgrenze 50+ ist, in manchen Schulformen sogar die 55+überschritten hat, stellt sich für mich die Frage: Wer wird denn freiwillig mehr arbeiten, wenn das Abgelten erst in einigen Jahren erfolgen kann? Hier scheint noch viel Aufklärungs- und Klärungsbedarf zu bestehen.

In den Schulformen Sekundarschule und Gemeinschaftsschule wird der Mangel an Fachlehrkräften in den nächsten Jahren immer gravierender. Insbesondere das Fehlen von Lehrkräften im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich und somit auch im gesamten MINT-Bereich wird ungeahnte Dimensionen annehmen. Die gesamtgesellschaftlichen Schäden dieser enormen Fehlentwicklung scheinen viele Entscheidungsträger wohl noch nicht zu sehen. Fehlende Fachlehrkräfte in diesen Bereichen führen zu weniger jungen Menschen in technischen, industriellen und handwerklichen Berufsfeldern. Dass diese aber das Rückgrat unserer Gesellschaft sind, muss ich wohl nicht weiter ausführen.

Was kann nun gegen den Lehrkräftemangel getan werden? Diese Frage, die ich mir persönlich auch immer wieder stelle, ist natürlich nicht einfach zu beantworten. Die o. g. politisch motivierten Lösungsansätze wirken vielleicht punktuell, doch sind sie in der extremen Lage wie ein paar Tropfen auf den berühmten heißen Stein. Die Ursachen der ganzen Probleme, des ganzen Versagens liegen eindeutig in den vergangenen Jahrzehnten. Damals haben die handelnden und verantwortlichen Personengruppen, die an den entsprechenden Stellen mit gesamtem Zahlenmaterial und dessen Deutungsbezug in Richtung Zukunft betraut waren, ihre Arbeit anscheinend nur unzureichend getan. Ich kann mir nicht vorstellen, dass aus dem Zahlenmaterial, das in den Beratungen in den verschiedensten Gremien der Vergangenheit vorlag, sich nicht die richtigen Schlüsse für die zukünftigen Schülerzahlen und für die zukünftigen Lehrkräfteentwicklungen ableiten ließen. Man muss es klar und deutlich sagen, es fand eine völlige Fehleinschätzung der Bildungs- und Schulentwicklung statt.

Auch wenn sich in den letzten Jahren unvorhersehbare Dinge (z. B. Zuzug nach Deutschland) ereignet haben, so hat man doch insgesamt zu blauäugig die Zukunftssituation eingeschätzt.

Mittlerweile ist es sogar so weit, dass sich Eltern, Schülerinnen und Schüler solidarisieren und sich für einen guten Unterricht starkmachen müssen. Dies reicht von Eigeninitiativen zur Gewinnung von einzelnen Lehrkräften bis hin zu einem organisierten „Schulstreik“. Apropos Streik – ein solcher

fand am Freitag vor den Herbstferien im nördlichen Sachsen-Anhalt statt. Die Thematik ist besonders und ein Sinnbild für die aktuelle Situation. Es ging um gute Bildung. Nun hatten sich die Jugend und auch die angehende Jugend Sorgen um ihre Zukunft gemacht, sozusagen „Fridays for Bildung“, und somit das demokratische Recht der Meinungsfreiheit sinnvoll und konkret in Anspruch genommen. Prompt kam von den entsprechenden Schulbehörden eine Reaktion: „Die Teilnahme ist ein unentschuldigtes Fehlen.“ Es ist erst einige Monate her, da wurde die Teilnahme an den Fridays-for-Future-Aktionen noch als „entschuldigtes Fehlen“ bewertet.

Aus meiner Sicht ist es dringend und zwingend notwendig, dass sich die Entscheidungsträger über Parteigrenzen, bildungspolitische Mauern und Gräben hinweg zusammensetzen und nach brauchbaren, realen und vor allem schnellen Lösungen suchen. Insbesondere für die Sekundar- und Gemeinschaftsschulen muss dringend an der Lösung des Lehrkräftemangels gearbeitet werden. Sonst droht er der Kollaps. Dazu gehört in erster Linie, dass man sich eindeutig zu diesen Schulformen bekennt und ihre extreme Wichtigkeit für die Gesellschaft hervorhebt. Das Mitschwingen einer sogenannten „Resteschule“ in mancher bildungspolitischen Diskussion gehört sich erstens nicht und ist zweitens das völlig falsche Signal. Genau diese Schulformen sind es, die die Fachkräfte für das Handwerk, den Handel und das Gewerbe sowie für den einfacheren und mittleren Dienst des öffentlichen Dienstes stellen. Sie bilden somit das Fundament unserer Gesellschaft.

Es ist höchste Zeit, sich zusammenzusetzen und dringend nach brauchbaren Lösungen gegen den Lehrkräftemangel zu suchen.

 

Torsten Wahl,
VBE-Landesvorsitzender

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Gepostet am

8. Dezember 2022

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