Mittlerweile kennt wohl jeder die Situation, wenn er einen Handwerker benötigt, für den wird es ganz schwierig. Tropft der Wasserhahn, funktioniert die Heizung nicht, gibt es einen Sturmschaden am Dach, möchte man den Fußboden erneuern, immer dann ist man in Nöten. Früher holte man noch mehrere Angebote ein und man konnte sich dann für das beste Angebot entscheiden. Wer heutzutage einen Handwerker für eine Dienstleistungserbringung buchen möchte, muss froh sein, wenn er überhaupt jemanden findet. Zeitliche Planung, finanzielles Aufkommen sind meist nicht verhandelbar. Man ist einfach glücklich, wenn es zu einem Termin kommt und die anfallenden Arbeiten erledigt werden. Ob diese dann qualitativ zufriedenstellend erledigt werden, steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Wenn man als Betroffener mal mit den Handwerkern sprechen kann, dann hört man einhellig den Tenor: „Wir finden keinen Nachwuchs, der Markt ist leer, keiner möchte Handwerker werden, wenn wir jemanden finden, sind die handwerklichen Qualitäten oft recht begrenzt.“.

Schaut man sich die Altersstruktur der Mitarbeiter in den Handwerksbetrieben an, fällt augenscheinlich auf, dass es mehrheitlich Mitarbeiter sind, die im mittleren oder höheren arbeitsfähigen Alter sind. Erstaunlich ist dies nicht, schaut man sich in den meisten Lehrerzimmern um, sieht es oft ähnlich mit der Altersstruktur aus.

Diese Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren noch verschärfen, da viele kleine Handwerksbetriebe aus Mangel an ausreichendem Personal schließen werden und ihr über Jahrzehnte geführtes Unternehmen trotz Auftragsflut und großem Beschäftigungsumfang für immer dicht machen. Ein Beispiel ist der Bäcker bei mir um die Ecke. Über zwei Jahre bemühte sich die Besitzerin um Personal. Der Zuspruch für die angebotenen Backwaren war riesig, trotzdem ist der traditionelle Ort für handgemachte Backkunst seit einem halben Jahr zu.

Nun könnte man diesen misslichen Zustand einfach so akzeptieren und das Prinzip Hoffnung walten lassen. Oder man denkt einfach mal aktiv darüber nach, wie man diesen Teufelskreis durchbrechen kann.

Und da sind wir am Tatort „Schule“. Woher können und sollen die künftigen Handwerker eigentlich herkommen? Wer möchte Gärtner, Tischler, Dachdecker, Elektriker, Bäcker, Maler oder auch Landwirt werden? Wenn man diese Auflistung so liest, hat man doch das Gefühl, dass dies tolle und erfüllende Berufsfelder sind, die einfach in den letzten Jahren im Bewusstsein der jungen Menschen nicht mehr positiv belegt sind und die im gesamtgesellschaftlichen Ansehen nicht ausreichend gewürdigt werden. Vielleicht liegt es auch an den entsprechenden finanziellen Einkünften, die in diesen Berufen erzielt werden können.  Aber wenn man sich hier die aktuelle Situation und die Perspektiven anschaut, die man in all diesen Berufsfeldern hat, dann kann man davon ausgehen, dass hier durchaus sehr gute Entlohnungen für das Geleistete erzielt werden können. Vielleicht noch nicht aktuell, aber in naher Zukunft schon. Bei dem Stichwort „Angebot und Nachfrage“ wird sicherlich jedem klar werden, in welche Richtung sich hier die Entwicklung bewegen wird. Ganz zu schweigen von den Entwicklungschancen, die sich hier jedem Einzelnen bieten, wenn man nur die Chance sieht und auch ergreift. Mit dem gewissen Fleiß und der entsprechenden Motivation kann man sich weiterentwickeln und vielleicht eines Tages einen kleineren oder größeren Handwerksbetrieb leiten und sein eigener Chef sein. Wer nicht so hoch hinaus möchte, wird zumindest in den allermeisten Fällen in zufriedene Kundengesichter schauen können. Und eines ist auch klar, man sieht in all diesen Bereichen etwas entstehen, was man mit seinen eigenen Händen geschaffen hat. Zufriedenheit und eine Art von Stolz können auch sehr wohltuende Ergebnisse eines Arbeitsalltages sein.

Doch woher sollen die zukünftigen Handwerker kommen. Hier helfen die Zahlen des Statistischen Landesamtes weiter. Im Schuljahr 2021/22 wechselten etwa die Hälfte der Grundschüler von der 4. Klasse auf ein Gymnasium. Nur 36 Prozent der Schülerschaft kamen von der Grundschule an die Sekundarschule. Das heißt im Klartext, ein gutes Drittel aller Grundschüler geht nur noch an die Schulform, die im Allgemeinen dafür bekannt ist, jungen Menschen die Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln, die sie für einen erfolgreichen beruflichen Einstieg im Bereich Handwerk benötigen. In diesem Zusammenhang ist eine Meldung des MDR (Anne-Marie Kriegel, MDR Aktuell, Stand: 06. Mai 2022) bemerkenswert. „Von den Schülerinnen und Schülern, die am Gymnasium in die zehnte Klasse kommen, hatten am Ende der Zwölften nur drei Viertel ein Zeugnis in der Hand.“ Nun gab es nach diesem Bericht einige Erklärungsversuche seitens des Bildungsministeriums und auch anderer Gewerkschaften. Andere Bildungswege, unklare Datenlage, notwendiger Datenschutz und der Mangel an Lehrkräften bildeten die Grundlage für die Erklärungsversuche. Überzeugend klingt das Ganze nicht. Um es noch einmal zu wiederholen, „25 Prozent der Oberstufenschüler verlassen die Schule ohne Abiturzeugnis“, so der MDR.

Könnte es aber vielleicht nicht so sein, dass die Entscheidung zum Übergang von der Grundschule zum Gymnasium für ein Großteil der Schülerschaft nicht die richtige ist. Dafür möchte ich einen kurzen geschichtlichen Exkurs einwerfen. Der Begriff „Abitur“ stammt von der lateinischen Form Abiturium ab und kam erst um 1800 in den deutschen Wortschatz. Es bedeutet so viel wie „einem, der im Begriff ist wegzugehen“. Wer also das Abitur macht, verlässt die Schule nach einer Abschlussprüfung (Reifeprüfung) und erwirbt die allgemeine Hochschulreife. Wer einmal selbst diese Reifeprüfung ablegen durfte, der kann sich bestimmt daran erinnern, dass dieses Hinarbeiten zu diesem Ziel kein Spaziergang ist. Hohes Leistungsvermögen, besonderer Fleiß und ein breites Spektrum von Talenten sind für einen erfolgreichen Abschluss notwendig. Apropos Talente, ist es nicht wirklich so, dass die Menschen sehr unterschiedliche Begabungen haben. Manche können mit ihren Händen wahre Kunstwerke hervorbringen, andere wiederum haben die Gabe, wundervolle theoretische Abhandlungen zu entwerfen. Wieder andere haben von vielen unterschiedlichen Dingen eine Portion abbekommen. Die menschliche Vielfalt ist doch wunderbar. Nun kommt auch noch hinzu, dass in Sachsen-Anhalt prozentual mehr Mädchen an das Gymnasium wechseln als Jungen. Auch die regionalen Unterschiede sind bemerkenswert. Im Landkreis Mansfeld-Südharz gehen 62 Prozent nach der Grundschule an die Sekundarschule. In der kreisfreien Stadt Halle liegt die Zahl bei elf Prozent (MDR Sachsen-Anhalt, Stand: 28.06. 2022).

Nun aber wieder zurück, zur hohen Anzahl von Teilen der Schülerschaft am Gymnasium, die eben nicht die Reifeprüfung erfolgreich ablegen. Wäre es vielleicht nicht für diese Kinder besser, wenn sie diesem permanenten Leistungsdruck, dem möglichen Versagen, der Angst vorm Scheitern nicht ausgesetzt wären? Könnten sich ihre Talente nicht vielleicht an der Sekundarschule eher entfalten? Wäre hier nicht eher ein Ort gegeben, an dem man einen soliden und nicht weniger erfolgreichen Abschluss erzielen kann? Ich will es mal mit einem Vergleich versuchen. Sie trainieren immer mit den besten 100-m Läufern des Landes. Seit Jahren trainieren sie fleißig aber ihre Bestzeit ist immer noch 3 Sekunden hinter den besten Zeiten der anderen. Was meinen Sie? Wie ist es um die Motivationslage dieses Sportlers bestellt? Aber in einer anderen Disziplin, nehmen wir einmal an, es wäre Kugelstoßen, da stoßen sie 2 Meter weiter als die besten 100-m Läufer. Hier sind sie motiviert, haben Erfolge, finden Beachtung und wie heißt es so schön: „Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg!“.

Wie verläuft eigentlich der Übergang von der Grundschule zum neuen Lernort in Sachsen-Anhalt? Kurz gesagt, der Elternwille ist entscheidend. Wie ich ja bereits erwähnt hatte, ist der Weg hin zur Reifeprüfung durchaus ein steiler, harter Anstieg, voller Kraftanstrengungen und hoher Hürden, um einmal im sportlichen Sprachduktus zu bleiben. Macht es also wirklich Sinn, Kindern, die schon in der Grundschule größere Probleme in vielen Bereichen haben, die also in Mathematik oder Deutsch befriedigende oder ausreichende Noten erlangen, durch Elternwillen ans Gymnasium zu schicken? Die Frage kann jeder einmal für sich beantworten.

Vor einigen Jahren besuchte ich einmal eine Veranstaltung im bildungspolitischen Bereich. Ein Satz in der Rede des damaligen Kultusministers ließ mich aufhören. Sinngemäß sprach er von der tragenden Säule und der wichtigsten Schulform in Sachsen-Anhalt. Gemeint war die Sekundarschule. Aus der Retroperspektive kann man heute nur sagen, dass die Aussagen von damals vielleicht gut gemeint waren aber von der Realität einfach eingeholt wurden. Man könnte meinen, dass hinter dieser Entwicklung eine Art „Naturgesetz“ stehen muss, doch weit gefehlt, es waren aktive politische Entscheidungen, die zu dieser Situation geführt haben.

Wenn man mit erfahrenen Kollegen spricht, dann hört man oft eine Meinung, die ich persönlich auch teile. Die Kinder sollten länger gemeinsam zur Schule gehen. Nun könnte man sagen, alte Zöpfe aus vergangenen Zeiten. Wenn man sich zum Beispiel den Primus im Bildungsbereich anschaut, nämlich Finnland, dann fällt unterem anderem eines auf. Von den Klassen eins bis neun gehen alle Schüler zusammen in die Gemeinschaftsschule. Das Bild des Lehrers ist ein anderes. Die Lehrenden sind in Finnland sehr angesehen und so verwundert es nicht, wenn nur etwa 10 Prozent der Bewerber für ein Lehramtsstudium angenommen werden. Natürlich sind dies nicht die einzigen Faktoren für ein Vorzeigebeispiel im Bereich der Bildung aber es sind grundlegende Pfeiler.

Was ist nun aber mit der Sekundarschule in Sachsen-Anhalt passiert? Unter dem unglaublichen Mangel an pädagogischem Personal hat diese Schulform am meisten gelitten. Zum besseren Verständnis möchte ich es mal exemplarisch machen, es gibt hier Schulen, die bräuchten etwa 30 Kollegen um den gesamten Unterricht abzudecken, leider stehen nur 22 zur Verfügung. Oder anders ausgedrückt, nur ca. 70 Prozent des zu vermittelnden Unterrichts, der allen Schülern natürlich zusteht, kann personell abgedeckt werden. Da möchte ich noch gar nicht von den Kürzungen im Bereich der Stundentafel sprechen, die in den letzten Jahren auf Grund des Mangels vollzogen wurden. Würde es diese Stunden noch geben, wäre diese massive Unwucht noch viel gravierender. Vor diesem Hintergrund sollte es doch keinen wundern, wenn Eltern bei ihrer Entscheidungsfindung, welche weiterführende Schule soll unser Kind besuchen, besonders diesen Aspekt betrachten. Das bedeutet, dass eine reale Einschätzung der Bildungsperspektive für das eigene Kind nicht vom Kinde hergedacht wird, sondern von den Rahmenbedingungen des existierenden Bildungssystems. Übrigens kann ich die Beweggründe der betroffenen Eltern durchaus nachvollziehen. Besonders prekär finde ich nur die Beweggründe, die zu diesem Entscheidungsprozess führen.

Eines muss hier unbedingt hervorgehoben werden. Die Kollegen an den Sekundarschulen versuchen mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, den völligen Kollaps abzuwenden und fahren seit Jahren auf abgefahrenen Reifen, mit leerem Tank und völlig verschlissenen Bremsen einen steilen Abhang hinunter. Unter diesen Bedingungen kann sich jeder ausmalen, was passieren wird. Deshalb verdienen diese Kollegen meinen vollsten Respekt und ein riesiges Lob. Doch ich rufe ihnen im gleichen Atemzug auch zu: „100 Prozent sind 100 Prozent, mehr geht nicht!“.

In einer aktuell veröffentlichten Studie (IQB-Bildungstrend 2021), die im Auftrag der KMK durchgeführt wurde, werden die Leistungen von Grundschülern in den vergangenen zehn Jahren dokumentiert. Um es kurz zusammenzufassen, die Ergebnisse in den Fächern Deutsch und Mathematik der Schüler der vierten Klassen sind signifikant schlechter als in den letzten Erhebungen 2011 und 2016. In einem Interview für das deutsche Schulportal sagt Frau Stanat, wissenschaftliche Leiterin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität Berlin, „Wenn man Schätzungen des Lernzuwachses heranzieht, den Kinder zwischen der dritten und vierten Jahrgangsstufe ungefähr im Durchschnitt erreichen, dann hinken die Viertklässler im Jahr 2021 den Viertklässlern im Jahr 2016 hinterher: in Orthografie und Mathematik um ein Viertel Schuljahr, im Lesen um ein Drittel Schuljahr und im Zuhören sogar um ein halbes Jahr. Und die Anteile derjenigen Kinder, die am Ende der Grundschule nicht einmal die sogenannten Mindeststandards erreichen, sind je nach Kompetenzbereich um sechs bis acht Prozentpunkte gestiegen.“ Was dies bedeutet, kann sich jeder denken. Zu den massiven personellen Problemen an den Sekundarschulen gesellen sich also auch noch strukturelle Problemlagen, die im Bereich der Grundschulen verankert sind. Über die weiteren Mammutfelder wie Inklusion, Teilleistungsstörungen und die Integration von Zugereisten möchte ich hier gar nicht sprechen. Kurzum, die Sekundarschule in Sachsen-Anhalt steht vor der Zerreißprobe.

Ich möchte also noch einmal auf das Eingangsthema „Fehlende Handwerker“ zurückkommen. Die Alarmzeichen stehen auf „Dunkelrot“. Sollte nicht sofort konzeptionell und strukturell in diesem Bereich etwas passieren, dann stehen dem Handwerk und damit jedem Bürger dieses Landes extrem schwere Zeiten ins Haus. Glücklich kann sich dann der schätzen, der über handwerkliche Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt. Wollen wir es wirklich soweit kommen lassen?

 

Ludger Thieler

Vorstand VBE Sachsen-Anhalt

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