Forsa-Studie: Inklusion scheitert auch in Mitteldeutschland an der Wirklichkeit – Teilstichprobe zeigt erstmals Verhältnisse in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auf
Erfurt, 29.05.2017 – Die Lehrer in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt sind beim Thema Inklusion insgesamt gesehen pessimistischer als der Bundesdurchschnitt,was jedoch auf ihre konkreten Erfahrungen im schulischen Alltag zurückzuführen ist. Nur knapp die Hälfte (49 Prozent) der Pädagogen in diesen drei Ländern sprechen sich für die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Unterstützungsbedarf aus. Deutschlandweit sind es 54 Prozent. Zu diesen Ergebnissen kommt eine umfangreiche repräsentative Forsa-Studie, die der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal in Auftrag gegeben hat. Bundesweit wurden über 2000 Lehrer zu ihren Meinungen, Einstellungen und Erfahrungen befragt. Erstmal fand diesmal auch eine Teilerhebung für Mitteldeutschland statt, deren Ergebnisse die Landesvorsitzenden des VBE Sachsen-Anhalt und des tlv thüringer lehrerverband am heutigen Vormittag in Erfurt vorstellten.
Die am häufigsten genannten Argumente gegen die schulische Inklusion betreffen überwiegend die Rahmenbedingungen: So beklagen 25 Prozent der Befragten fehlendes Personal, an zweiter Stelle der Mängelliste rangierten mit jeweils 16 Prozent die mangelhafte räumliche Ausstattung der Schulen und die unzureichende Ausbildung der Lehrer für den inklusiven Unterricht. Folglich waren 13 Prozent der Meinung, dass an den allgemeinbildenden Schulen der erhöhte Förderbedarf nicht geleistet werden kann. Ebenso viele Befragte gaben an, dass nach ihrem Dafürhalten auch die Kinder ohne Unterstützungsbedarf Nachteile erleiden. In diesem Bereich zeigten sich kaum Unterschiede zwischen den gesamt- und den mitteldeutschen Ergebnissen.
Größere Klassen, unpassende Räume, weniger Vorbereitung
Anders bei der Klassenstärke: Die Schüleranzahl in den inklusiven Klassen (durchschnittlich vier Schüler mit Unterstützungsbedarf) liegt in Mitteldeutschland bei 18,9 – bundesweit nur bei 17,4. Zudem hat die bundesdeutsche Klassengröße seit der letzten Umfrage 2015 abgenommen. Damals waren es 18,0. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen liegt der Durchschnitt also trotz dieses Trends noch höher als der Ausgangswert. Gleichzeitig gaben insgesamt 88 Prozent der Befragten an, dass beim Hinzukommen eines Kindes mit Unterstützungsbedarf die Klassenstärke gleich geblieben oder sogar vergrößert worden ist. Bundesweit sagten das nur 65 Prozent für 2017 (2015: 69 Prozent).
Auch bei der Vorbereitung auf den Unterricht in einer inklusiven Klasse herrschen Unterschiede zwischen Gesamt- und Mitteldeutschland: Bundesweit haben 21 Prozent der Befragten mehrere Monate, ein Schuljahr oder sogar noch länger Zeit gehabt. Das ist nicht viel – aber in Mitteldeutschland konnten das sogar nur 13 Prozent von sich sagen. Überwältigende 60 Prozent haben hier nur eine bis wenige Wochen Zeit, um sich vorzubereiten. Auch bei der räumlichen Ausstattung der Schulen zeigen sich deutliche Unterschiede: Nur 37 Prozent der Befragten in Mitteldeutschland haben an ihren Schulen Räume für Kleingruppen, 29 Prozent Differenzierungsräume. Bundesweit liegen diese Werte bei 57 bzw. 49 Prozent.
Mangelnde Aus- und Fortbildung, zu wenig Unterstützung
Bei der Aus- und Fortbildung herrscht deutschlandweit gewaltiger Nachholbedarf. In Mitteldeutschland gaben 24 Prozent der Befragten an, dass die inklusiv unterrichtenden Lehrpersonen an keiner speziellen Fortbildung teilgenommen haben. Ebenso viele konnten vorher überhaupt keine Erfahrungen im inklusivenUnterricht sammeln. 60 Prozent verfügen über keine sonderpädagogischen Kenntnisse, für 81 Prozent war Inklusion kein Teil der Lehrerausbildung.Allerdings werden im Bundesdurchschnitt die Lehrer besser durch multiprofessionelle Kollegen unterstützt als in Mitteldeutschland: Insgesamt arbeiten deutlich mehr Lehrer mit Sozialpädagogen (67 vs. 57 Prozent), Sonderpädagogen (67 vs. 53 Prozent) und Schulpsychologen (16 vs. 11 Prozent) zusammen. Eine medizinische Assistenz gibt es an immerhin 5 Prozent der Schulen, in Mitteldeutschland ist es jedoch nur 1 Prozent. Zu diesen Ergebnissen passt, dass hier fast drei Viertel (74 Prozent) der Lehrer im inklusiven Unterricht für gewöhnlich allein unterrichten, deutschlandweit sind es 65 Prozent. Bei 82 Prozent der Befragten in Mitteldeutschland gibt es an der Schule keine Maßnahmen zur Unterstützung bei der Bewältigung von möglichen physischen und psychischen Belastungen durch die inklusive Unterrichtung (Bund: 78 Prozent).
„Ein desaströses Bild“
Insgesamt, so die Schlussfolgerung des tlv Landesvorsitzenden Rolf Busch, zeichne die Forsa-Studie „erneut ein desaströses Bild von der inklusiven Schule in Deutschland“. Beim Vergleich mit den Werten von 2015 hätten sich kaum Verbesserungen gezeigt. Dass die Situation in Mitteldeutschland zum Teil noch verheerender ist als die Gesamtwerte, überrascht ihn nicht: „Wir erleben Tag für Tag, welchen enormen Belastungen die Kollegen im inklusiven Unterricht ausgesetzt sind. Es mangelt buchstäblich an allem.“
„Gleichzeitig zeigt die Studie sehr klar auf, was die Lehrer sich wünschen“, ergänzt Helmut Pastrik, der Landesvorsitzende des VBE Sachsen-Anhalt. „Wenn sich praktisch alle Befragten für eine konsequente Doppelbesetzung im inklusiven Unterricht aussprechen, dann ist das ein eindeutiges Votum. Die Bildungspolitiker dürfen das Problem nicht länger auf die leichte Schulter nehmen.“
Dass die Gesamtnote für die personelle Situation mit 4,8 nur „ungenügend“ausfiel, ist nach Ansicht der beiden Landesvorsitzenden auch auf die häufige Fehleinschätzung der sogenannten ESE-Kinder durch Außenstehende zurückzuführen. Nach Einschätzung der befragten Lehrer haben diese den höchsten Unterstützungsbedarf, deutlich höher als etwa Kinder mit Problemen in der geistigen Entwicklung und beim Lernen. Gleichzeitig nimmt ihre Zahl beständig und am stärksten zu. Vor allem hier, so Pastrik und Busch, herrsche dringender Handlungsbedarf.
Gemeinsam mit dem VBE fordern dessen Landesverbände tlv und VBE Sachsen-Anhalt deshalb die notwendigen Investitionen, damit die Gelingensbedingungen für die schulische Inklusion stimmen. Dazu gehören:
1) die Doppelbesetzung aus Lehrkraft und Sonderpädagoge,
2) die Unterstützung durch multiprofessionelle Teams,
3) die schulbaulichen Voraussetzungen,
4) kleinere Klassen,
5) bessere Vorbereitung durch angemessene Aus-, Fort- und Weiterbildung
Downloads:
Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrkräfte in Deutschland (Charts – Bund)
Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrkräfte in Deutschland (Text)
Gemeinsame Pressemitteilung VBE Sachsen-Anhalt und tlv vom 29. Mai 2017